Was macht ein Philosoph in der Psychotherapie?

Florian Schmidsberger • Juli 17, 2022

Über den Benefit der Philosophie für die Psychotherapie

Vorurteile gegenüber der Philosophie gibt es viele: Sie sei zu abstrakt, sie handle von einem inhaltsleeren Denken im »Elfenbeinturm«, ihr Reden sei ein »Geschwurbel«, das mit der Realität und den alltäglichen Belangen unserer Lebenswelt nur wenig zu tun habe. Man könne mit ihr nicht viel anfangen, die Philosophie sei ein »brotloser« Beruf. Gegenüber Philosoph*innen sei es das Beste, höflich zu nicken und nicht weiter zuzuhören.


Als jemand, der ein Philosophie-Studium – im Diplom und Doktorat – abgeschlossen und einen Großteil seines Erwachsenen-Lebens mit Philosophie verbracht hat, war ich oft genug mit solchen Vorurteilen konfrontiert – sei es unausgesprochen, oder ausdrücklich formuliert. Ich selbst habe Philosophie, wie sie im universitären Rahmen vermittelt wird, mit Leidenschaft studiert, und bin ebenso leidenschaftlich Philosoph wie ich leidenschaftlich gerne Psychotherapeut bin. Den Vormeinungen möchte ich entgegenhalten, dass Philosophie insbesondere im Feld der Psychotherapie viel beitragen kann. In diesem Sinne möchte ich folgende Punkte aufzeigen, wie Philosophie einen praktischen Nutzen für die praktische Arbeit in der Psychotherapie, für die fachliche Reflexion und die Psychotherapieforschung generieren kann.


Mit dem folgenden kurzen Clip, das im Zuge einer Einreichung für den Impact Award 2022 an der Universität Wien entstanden ist, möchte ich kurz meinen eigenen Zugang verständlich machen.

Zusammengefasst lauten meine Argumente:


1) Freiheitgsgrade im Denken und Fühlen


Sowie uns die psychotherapeutische Arbeit Freiheit im Fühlen ermöglicht, leistet dies die philosophische Tätigkeit im Rahmen unserer Denkgewohnheiten – anders denken zu können. Freiheit im Denken oder Freiheit im Fühlen bedeutet, Distanz zu Selbstverständlichkeiten und unhinterfragten Gewohnheiten zu gewinnen, um damit in die Lage zu kommen, ein breiteres Spektrum an Möglichkeiten zu haben, über Welt zu sprechen bzw. im Miteinander mit Anderen zu fühlen.


2) Anwendung in der konkreten Begegnung


Mit leidenschaftlichem Eifer plädiere ich für ein »erfahrungsgeleitetes Philosophieren«. Ein solches findet seinen Boden in unserem lebensweltlichen sowie psychotherapeutischen Alltag und zielt letztlich darauf ab, diese dahingehend zu beeinflussen, wie wir mit Menschen umgehen. Der besondere Benefit von Philosophie liegt meines Erachtens in einem sehr humanen, würdevollen und wertschätzenden Blick auf Menschen.  


3) Philosophie im wissenschaftlichen Austausch


Wissenschaft ist ein kooperatives Unterfangen. Gültige Theorien von der Psyche, ihrer Struktur und ihren Dynamiken oder von emotionalen Leiden brauchen verschiedene Perspektiven. Die Philosophie hat eine herausragende Kompetenz in der Bildung wissenschaftlicher Theorien – dies eine ihrer Kernkompetenzen.


4) Philosophie als aufgeklärter Hintergrund für konkrete Forschungsvorhaben


Philosophie ist abstrakte und komplexe Meta-Theorie, also eine zusätzliche Theorie-Ebene bei wissenschaftlichen Theorien, die deren Grundlagen betreffen. Klären wir mit der Philosophie unsere Konzepte und Vorstellungen – etwa von Bewusstsein, Emotionen, Vulnerabilität – so bekommen wir bessere wissenschaftliche Untersuchungen.


5) Klärung epistemischer Ansprüche


Psychotherapeutische Theorien unseres Erlebens erheben erkenntnistheoretische Ansprüche. Etwa darüber, in welchem Ausmaß sie Gültigkeit haben. Philosophie erlaubt es, solche epistemischen Ansprüche zu prüfen, zu klären und Limitierungen aufzuzeigen. Beispielsweise lässt sich an neurowissenschaftlichen Theorien anzweifeln, ob wir allein damit ein ausreichendes Verständnis von Bewusstsein oder intersubjektiver Wahrnehmungen erlangen.


Sprechen Sie meine Beschreibungen zur Philosophie an? Und sind Sie bereit, mit mir noch etwas tiefer in die Welt der Philosophie einzutauchen? Dann möchte ich bei den genannten Punkten noch etwas mehr ins Detail gehen. Mir ist bewusst, Philosophie ist sehr anspruchsvoll. Meiner Erfahrung nach hält sie dafür besondere ideelle Schätze für jene parat, die sich die Mühen dieses Weges antun.

Im Folgenden werde ich auf philosophische Teilgebiete wie die Ontologie (Verfasstheit unserer Welt) oder Epistemologie (Erkenntnistheorie) verweisen. Wer damit wenig vertraut ist, möge in folgendem kurzen Videoclip eine kurze Einführung finden:

Ad 1) Freiheitgsgrade im Denken und Fühlen


Mein erstes Argument betrifft eine intellektuelle Grundhaltung, die ich selbst entlang eigener Erfahrungen bezeugen möchte: Während ich selbst der Philosophie Freiheitsspielräume im Denken verdanke, wurde mir über die Psychotherapie das Geschenk von Freiheitsspielräumen im Fühlen zuteil, hin zu mehr Lebensqualität, Lebenssinn und Lebensfreude. Philosophisches Denken vermittelt hoch komplexe und fundierte Theorien von Bewusstsein, Leib, Subjektivität oder Intersubjektivität. Hiermit werden Selbstverständlichkeiten des eigenen Welthorizontes fragwürdig, was vor allem eine zentrale Konsequenz hat: Sich dessen bewusst zu werden, dass wir anders denken zu können, als es uns unsere Umgebung oder Sozialisation nahelegen würde. Hierin eröffnen sich Freiheitsspielräume. Dasselbe gilt analog auch für die Psychotherapie: Auch hier können Selbstverständlichkeiten in unseren Gewohnheiten, zu fühlen, fragwürdig werden, wodurch kleine Spielräume aufgehen, anders fühlen zu können. Beispielsweise raus aus Entwertungen (gegenüber sich selbst und gegenüber Anderen) zu kommen, Nähe und Distanz besser regulieren zu können, beziehungsfähiger zu werden. Auch hierin eröffnet sich ein Mehr an Möglichkeiten sowie Grade emotionaler Freiheit. Jene Freiheit ist aber keine absolute, keine willkürliche Setzung - ich habe nicht die Freiheit mich zu entscheiden, eine Spinne zu sein. »Freiheit« oder »Freiheitsspielräume« bedeutet vielmehr, dass wir zu Gewohnheiten und vertrauten Regeln in Distanz treten und diese anpassen können. Waldenfels formuliert: »Freiheit (lässt) sich bloß innerhalb von Strukturen und Regeln realisieren […] – und nicht außerhalb ihrer.« (Waldenfels 2000, 201) Er ergänzt: »Freiheit besteht nicht in einer willkürlichen Setzung, sondern in einer Umgestaltung und Umstrukturierung der Situation.« (ebd. 197) Freiheit im Denken und Fühlen sind folglich eine bedingte Freiheit, aus unseren vertrauten Gewohnheiten herauszukommen.


Ad 2) Anwendung in der konkreten Begegnung mit Klient*innen


Meines Erachtens ist der Raum der Psychotherapie besonders geeignet, um philosophische Ideen und Überzeugungen »in die Praxis« umzusetzen und sie zur »Anwendung« zu bringen - und zwar in der Begegnung mit Hilfe suchenden Menschen:


Die Phänomenologie ist somit gerade in der Psychiatrie keine distanziert beobachtende, sondern eine teilnehmende und engagierte Methode. Es geht darum, etwas zum Ausdruck und zur Sprache zu bringen, dass sich der Patient durch das Verstehen des Psychiaters auch selbst verständlicher wird. Er ist nie bloßes Untersuchungsobjekt, sondern vom ersten Gespräch an ein leidender Mitmensch, der im Gespräch auch ein ›geteiltes Leid‹ erfährt. Wenngleich die phänomenologische Psychopathologie auf einer komplexen philosophischen Begrifflichkeit basiert, die der grundlegenden Analyse der primären Erfahrung dient, so ist doch ihr letztes Ziel immer die Anwendung in der therapeutischen Begegnung. (Fuchs 2020, 14)


Mein eigenes psychotherapeutisches Arbeiten orientiert sich an stark an Phänomenologie und Existentialismus, an philosophischen Konzepten von Bewusstsein, Leib, Gefühlen und Anerkennung in sozialen Konstellationen. Umgekehrt befruchten meine Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis meine Auseinandersetzung mit Philosophie. Sie geben den abstrakten Überlegungen der Philosophie »Farbe«, »Fleisch«, Anschaulichkeit und Lebendigkeit. 


Entsprechend trete ich auch für ein erfahrungsgeleitetes Philosophieren ein, das einerseits bei unseren lebenspraktischen Erfahrungen ansetzt und dorthin wieder zurückfließt, indem es unser Handeln verändert. Ein Philosophieren in der Psychotherapie ist also kein »Geschwurbel im Elfenbeinturm«, sondern hat unsere lebensweltlichen und praktischen Erfahrungen als Boden und Ziel. Das besondere Vermögen der Philosophie – insbesondere der Phänomenologie – liegt meines Erachtens darin, dass sie uns in ihren Theorien eine sehr humane, würdevolle und wertschätzende Sicht auf Menschen vermittelt.

Ad 3) Philosophie im wissenschaftlichen Austausch


Wissenschaft ist ein kooperatives Unterfangen. Um wahre und gültige Aussagen über Ausschnitte unserer Welt zu machen, wie etwa über Struktur und Dynamiken unserer Psyche, braucht es einen Austausch mit anderen Disziplinen und anderen Kolleg*innen. Wissenschaftsinteressierte Leser*innen, die eher mit empirischen Arbeiten sowie psychologischer wie medizinischer Forschungsrationalität vertraut sind, mag der philosophische Zugang womöglich ungewohnt anmuten. Im Zeichen einer »Multi-Perspektivität«, die sich für eine Vielzahl alternierender Zugänge offenhält, möchte ich die philosophische Perspektive als eine ergänzende (und kontingente) Beschreibungsweise neben anderen wissenschaftlichen Beschreibungssprachen positionieren. Erinnert sei auch an den Leitfaden der Praxisorientierten Psychotherapieforschung (Riess 2018) und dessen Wertschätzung philosophischen Arbeitens mit einem »eigenständigen, zentralen Wert für die Psychotherapieforschung« (Riess 2018, 14). Und zwar in jenem Sinne, dass sowohl Psychotherapieforschung, als auch die praktische psychotherapeutische Arbeit von Impulsen philosophischer Bewusstseinstheorie, Leibtheorie oder Sozialer Ontologie profitieren können. Der eigentümliche Beitrag liegt dabei in der Theoriebildungskompetenz der Philosophie, einen begrifflichen bzw. konzeptuellen Rahmen für empirische Forschung und zur Einordnung empirischer Ergebnisse vorzulegen, epistemische Ansprüche und Grenzen zu klären und die Wahrnehmung im praktischen Arbeiten zu differenzieren.

 

Ad 4) Philosophie als aufgeklärter Hintergrund für konkrete Forschungsprojekte


Wissenschaftliche Untersuchungen orientieren sich bei ihrem Forschungsdesign, also der konkreten Ausgestaltung eines Vorgehens für empirische Datensammlungen, an Auffassung davon, wie Dinge verfasst sind. Wie sind Gefühle gebaut? Was ist die Struktur des Unbewussten? Was ist Gedächtnis? Wie hängen Gefühle und Körper zusammen? Diese – ontologischen – Hintergrundüberzeugungen schlagen sich im Aufbau und der Ausgestaltung des methodischen Vorgehens nieder. Es liegt nahe, dass wir bessere Forschungen durchführen, wenn wir an diesen konzeptuellen Hintergrundüberzeugungen feilen:


[I]f, in a methodical way, we pursue a detailed phenomenological analysis, exploring the precise intentional, spatial, temporal, and phenomenal aspects of experience, then we will end up with a description of just what it is that the psychologists and the neuroscientists are trying to explain when they appeal to neural, information processing, or dynamical models. Indeed, the phenomenologist would claim that this kind of methodically controlled analysis provides a more adequate model of perception for the scientist to work with than if the scientist simply starts with a common-sense approach. (Gallagher & Zahavi 2012, 10)


Das Argument lautet also, dass eine philosophische Auseinandersetzung mit einer Erfahrung oder einem Phänomen das begriffliche Vorverständnis erhellt, das konkreten empirischen Untersuchungen vorausgeht. Eine differenzierte philosophische Klärung etwa davon, was mit aufwändigen empirischen Forschungsarbeiten untersucht werden soll, wirkt sich auf das Studiendesign aus. Analog möchte ich argumentieren, dass eine philosophische Auseinandersetzung etwa mit Bewusstsein, Subjektivität, Emotionalität oder Verletzbarkeit unsere Vorverständnisse erhellen, die einerseits in der Psychotherapieforschung das Studiendesign, andererseits in der praktischen Arbeit mit Klient*innen unsere Wahrnehmung implizit und performativ leiten. Mit meiner Dissertation habe ich etwa versucht, ein Verständnis von Vulnerabilität und von schmerzhaften affektiven Leidenserfahrungen zu erarbeiten, das in vielfältigen und reichhaltigen Weisen Eingang in Forschungsdesigns und konkretes praktisches Arbeiten finden kann.


Ad 5) Klärung epistemischer Ansprüche


Psychotherapeutische Theorien erheben den Anspruch gültig zu sein, diese Gültigkeit soll am besten eine umfassende Reichweite haben. Dass solche Ansprüche auch zu weit gehen können, möchte ich an einem weit verbreiteten Diktum von Watzlawick veranschaulichen: »Wer einsieht, dass er seine Wirklichkeit selbst konstruiert, der ist wirklich frei. Er weiß, dass er seine Wirklichkeit jederzeit ändern kann.« (Watzlawick 2015, 73) Eine solche konstruktivistische Auffassung vom Erkenntnisvermögen betont die aktive Seite unserer Denkgewohnheiten und legt uns eine besondere gestalterische Freiheit nahe. Philosophisch lässt sich daran Kritik üben, dass eine solche Haltung Limitierungen übersieht: Widerfahrnisse, kollektive Bedeutungen, Sozialität und Anerkennung.


Um dies kurz zu umreißen: a) Widerfahrnisse können sich uns aufdrängen und unsere Aufmerksamkeit kapern. Beispielsweise wenn eine junge erwachsene Frau wiederkehrend und ohnmächtig von Erinnerungen an Erfahrungen wiederholter Übergriffe aus ihrer Jugend heimgesucht wird und sie keinen Ausweg gegen solche Intrusionen findet. b) Wohl können wir unsere Sinnbildungen selbst gestalten, kommen dabei aber nicht einem kollektiven kulturellen Hintergrund aus. Was etwa »Ehe« bedeutet, welche Symbolik Ringe an den Fingern haben, ist geprägt von kollektiven Bedeutungsreservoirs, die wir nicht einfach durch individuelle Konstruktionen verändern können. c) Eigene Sinnbildungen, so sehr man auch selbst davon überzeugt sein mag, verlangen nach Anerkennung durch Andere. Ich kann davon überzeugt sein, für eine ausgeschriebene Stelle der am meisten geeignete Kandidat zu sein und im höchsten Ausmaß bestimmte Fähigkeiten zu haben. Ohne die Anerkennung meiner Fähigkeiten von Anderen werde ich die ausgeschriebene Stelle aber nicht bekommen. Meine individuelle Fähigkeit, Wirklichkeit zu konstruieren, ist wohl eine berechtigte Qualität, die Freiheit, die Watzlawick vor Augen hat, ist aber eine limitierte Freiheit. Die impliziten epistemischen Ansprüche von Watzlawick sind meines Erachtens überzogen, auch wenn sein Diktum bedingte Gültigkeit hat. 

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